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Geschichten aus der Praxis

Heute bei den Werkstücken für die Beisetzung war sie mir eine echte Hilfe. Darum nehme ich sie auch mit zur Friedhofskapelle, damit sie einen Gesamteindruck bekommt, wie unsere Werkstücke vor Ort wirken.
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Die „Geschichten aus der Praxis“ wollen dazu einladen, den Alltag einmal aus der Distanz anzuschauen. Sie sollen zum Nachdenken anregen und Anstoß sein. Die Geschichten bleiben unkommentiert. Es gibt offene Fragen, keine fertige Antwort …
6. Wenn eine Auszubildende zur Leiche erstarrt …
In ländlichen Regionen gehört der Tod oft noch ins Gemeinschaftsleben von Jung und Alt. Da steht der Enkel auch noch am offenen Sarg der Großmutter und fasst sie an, um „zu begreifen“. In unserer Gesellschaft aber wird der Tod mehr und mehr verdrängt. Es wird anonym gestorben, anonym beerdigt. Gerade auch viele junge Menschen haben keinen Zugang zum Tod, haben Ängste, falsche Vorstellungen – weil der natürliche Umgang mit dem Sterben fehlt. Doch es ist wichtig, sich dem Thema auch in der Praxis des Blumengeschäfts zu nähern und ihm Zeit einzuräumen.
So. Der Firmenwagen ist beladen: sechs Kränze, ein Sargschmuck, zwei Pflanzschalen und zwölf Nachwerfsträußchen für die Familie. Ich gehe noch mal alles durch. Die Beisetzung Gertrud Müller ist vollständig.
Zusammen mit unserer Auszubildenden Kathrin habe ich die Werkstücke heute fertig gemacht. Als Floristmeister arbeite ich mit Kathrin und zwei weiteren Floristinnen in einem Blumengeschäft in einem Vorort von Gütersloh.
Kathrin ist im dritten Ausbildungsjahr und ein richtiger Glücksgriff für unseren Laden. Erklärte Dinge setzt sie schnell um und ihre eigene Kreativität bringt sie gut ein.
Wir plaudern auf der Fahrt zur Friedhofskapelle und Kathrin sprudelt wie ein Wasserfall und berichtet von der Beerdigung ihrer Tante und dem „unmöglichen Blumenschmuck“. „Heute würde ich das selber machen“, erklärt sie mit dem Brustton der Überzeugung.
Wir sind an der Friedhofskapelle angelangt. Hier habe ich schon häufig Werkstücke für eine Beerdigung abgegeben. Wir fahren von hinten an die Trauerhalle heran. Die Tür zum Hintereingang steht schon offen.
Ich bitte Kathrin darum, mir mit einem bepflanzten Kranz zu helfen, der alleine schwer zu tragen ist. „Klar, mache ich“, sagt sie ganz selbstbewusst.
Zu zweit, den Kranz in unserer Mitte, betreten wir den Gang zur Trauerhalle, als Kathrin plötzlich wie angewurzelt stehen bleibt. Ich verstehe nicht. Mit schreckgeweiteten Augen starrt sie auf den Gang: Da steht ein offener Sarg, genauer, der Sarg von Gertrud Müller. Der Bestatter hatte Frau Müller wohl gerade aus dem Abschiedsraum geschoben und wollte den Sarg nun hier schließen. Kathrin wird ganz blass und flüstert: „Ich habe doch noch nie eine Leiche gesehen.“
Mir fällt es wie Schuppen von den Augen: Was für mich in meiner jahrelangen Praxis schon selbstverständlich war, nämlich der Anblick von Verstorbenen in der Friedhofskapelle, war für unsere 17-jährige Auszubildende das erste Mal.
Wir hatten Gott sei Dank noch ein bisschen Zeit bis zur Beisetzung. So legten wir den Kranz im Flur ab, setzten uns nach draußen – und redeten.
Impuls: Wie geht es mir beim Anblick Verstorbener? Erinnere ich mich noch an mein „erstes Mal“? Wie kann ich junge Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, sensibel an das Thema heranführen? Wer kann uns im Geschäft vielleicht auch professionelle Hilfestellung geben? Wie können wir als Fachgeschäft ein Zeichen setzen, dass der Tod zum Leben gehört?

Markus A. Reinhold, Hannover
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